Im Bus nach Auschwitz
Franziska Dittert (2025)
Der Bus ist eng, die Sitze nahe bei einander. Jeder hat nur einen Sitz. Niemand weiß, wohin mit seinen Beinen. Irgendjemanden ist es immer viel zu warm oder viel zu kalt. Wir sind um 22.00 Uhr losgefahren und werden erst am Mittag in Krakau ankommen. Eine Nacht im Bus. Ich lege mein Kopf an das Fenster und schließe die Augen.
Die Menschen vor 80 Jahren fuhren auch von hier nach Auschwitz. Sie standen im Eisenbahnwaggons. Dicht an dicht. Körper an Körper. Arm an Arm. Bauch an Rücken. Sie standen eine ganze Nacht. Eine ganze Nacht und ein Tag. Einen Tag und eine Nacht und einen Tag. Oder länger als zwei Tage und Nächte. Welche Schmerzen müssen sie in den Beinen gehabt haben. Was haben sie gefühlt, wenn neben ihnen jemand starb? Die Luft war dünn. Sie konnten kaum atmen. Manche erstickten. Jemand starb neben ihnen. Körper an Körper. Die Menschen konnten nichts essen und vor allem nichts trinken. Im Sommer war die Hitze unerträglich. Manche verdursteten. Die anderen standen. Körper an Körper. Mit Schmerzen, mit Atemnot, mit Durst. Machen Züge standen nach Ankunft noch lange ungeöffnet.
Foto: Ron Porter
Drehmoment
Franziska Dittert (2025)
Sie ist einfach gegangen. Hat mir vorgeworfen, es nur falsch zu machen. In ihrer Kindheit und jetzt. Hat sich umgedreht und ist gegangen. Das ist drei Jahre her. Drei Jahre Stille. Ich sehe ihn immer wieder vor mir, den Moment, in dem sie sich umdreht. Den Drehmoment meines Lebens. Den Moment, seitdem ich keine Mutter mehr bin, sondern nur noch war.
Dieser Drehmoment ist auch ein Vakuummoment. Er hat ein Vakuum in meinem Leben geschaffen, eine Leerstelle, die alles andere überdeckt. War ich vorher Mutter, Architektin, Ehefrau, Freundin. Bin ich jetzt Architektin, die von ihrer Tochter verstoßen wurde, Ehefrau, die vom ihrer Tochter verstoßen wurde, Freundin, die von ihrer Tochter verstoßen wurde. Alles wird in dieses Vakuum hineingezogen. In einem Vakuum stirbt jedes Leben.
Foto: Pexels
Zurück
(Franziska Dittert, 2025)
Die Hügel wellen sich sanft vor ihm, Kissenlandschaften in zartem weichem Grün. Er lässt seinen Blick über die Weite streifen und atmet innerlich auf. Am Fluss liegt schlafend sein Dorf. In der Ferne schweigt erhaben der Wald, Deckengewölbe in sattem dunklem Grün.
Von Glück überrollt, bückt er sich, streichelt das Gras zu seinen Füßen und lacht beim Weinen. Verstohlen wischt er die Tränen mit dem Ärmel ab, obwohl er allein hier steht. Er war so stark in den letzten Monaten und merkt erst jetzt, wie schwach er war.
Wie eine zähe Ewigkeit im dunklen Schmerz hat sich diese Zeit in ihm festgesaugt. Eintönig grau das Zimmer, das Bett, der Schmerz, die Zugänge, die OPs, das von Medikamenten verstopfte Gehirn.
Vorsichtig setzt er sich ins Gras. Er drückt zart sein Gesicht ins Grün. Der Geruch von Sommer und Sorglosigkeit, der Atem des Lebens.
Illustration von Jordon Johnson
Versteckspiel
(Franziska Dittert, 2025)
„Eins, zwei, drei
Wer ist dabei?
Willst du nicht verzwergen,
musst du dich verbergen!“
Laut rief Mara den Reim und ich versteckte mich schnell. Dieses Versteckspiel machten wir jede Pause und ich war gut darin. Doch heute war es grau und zäh in mir, denn ich hatte mich mit Mara gestritten. Im Bus hatte sie mich fertig gemacht, jetzt schwieg sie mich den ganzen Tag an und taxierten mich mit dem Bitch-Blick. Ich saß im Versteck. Ich sah sie an mir vorbeigehen. Ich sah, wie sie mich sah. Ich bin mir sicher. Leo war der letzte vor mir, der gefunden wurde und dann liefen alle davon. Ich saß im Versteck. Allein. Das Spiel war zu Ende. Und ich saß immer noch im Versteck. Von weitem konnte ich sie auf dem Fußballplatz spielen sehen. Ich blieb sitzen. Nie wieder würde ich dieses Versteck verlassen.
Illustration von Davie Bicker
Bloßgestellt
(Franziska Dittert, 2022)
Diese Party werde ich nie vergessen, obwohl ich mich nicht mehr daran erinnern kann.
Die Party war an einem Samstag bei Paul. Am Sonntagmittag wachte ich auf Pauls Sofa auf. Alles tat mir weh, mir war übel und ich entschied sofort, direkt weiterzuschlafen, bis es mir besser ging. Gegen Abend warf Paul mich mit einem „Du musst jetzt echt mal gehen!“ raus. Vor dem Haus stand mein Fahrrad, das ich schob und so langsam und wacklig nach Hause ging.
Ich räumte meinen Kopf auf: Pauls Geburtstag; Jonna war da; wir haben geredet; dann diese Spiele; die Verlierer haben Kurze getrunken; Jonna hat mich angefeuert. Und dann? Wann ist sie gegangen? Wann sind die anderen gegangen? Filmriss, dachte ich, schöner Mist.
Das Gespräch mit meiner Mutter brachte ich hinter mich. Ich brauchte nur Ruhe. Dunkelheit. Und ich musste liegen. Weiterschlafen.
Ein sanftes Ruckeln weckte mich. „Mark“, die Stimme meiner Mutter klang leise, weit weg, besorgt, „Jonna hat angerufen. Sie geht doch in deine Stufe, oder? Du sollst sie schnell zurückrufen.“
Meine Augen so schwer, wie aus Stein. In meinem Magen immer noch ein Wespenschwarm unterwegs. Im Kopf ein piependes Pochen. Reflexartig griff ich in die Tasche nach meinem Handy. 63 neue Nachrichten. Ziellos scrollte ich im Klassenchat herum und erstarrte: Ein Foto von mir, lachend, auf dem Klavier von Paul stehend, mit runtergezogener Hose. Bis zu den Knien hing die Hose. Bis zu den Knien hing die Unterhose. Meine Hose. Meine Unterhose.
Panisch checkte ich die anderen Chats: Überall dasselbe Bild!
Da spielten die Wespen in meinem Magen verrückt. Ich stürzte ins Bad und übergab mich.
Noch neun Stunden bis Montagmorgen, erste Unterrichtsstunde.
Jonna rief ich nicht an. Ich nahm eine Kopfschmerztablette, schaltete das Handy aus und zog die Decke über den Kopf. Nur schlafen, nur ein paar Stunden noch Ruhe.
Illustration von Piyapong Saydaung
Unterrichtsmaterial zum Text findet sich auf https://eduki.com/de/571504
Wieder laufen lernen
(Franziska Dittert, 2019)
Jasmin ist grau und wie Staub. Der Tag war ein Tornado. Seit dem frühen Tod ihrer Freundin ist sie auf Treibsand unterwegs. Keine einzige Wurzel mehr, die sich um die Steine des Lebens klammern könnten. Wie ein alter Kassenbon auf dem Supermarktparkplatz wird sie durch das Leben getrieben.
Jason ist unsicher und genervt. Jasmin war wie das Fundament eines Wolkenkratzers, als er sie kennenlernte. Er war der Träumer, der Zögernde, der Stolpernde. Er konnte ihr jetzt wirklich nicht helfen, er war nicht stark genug. Es war nicht seine Aufgabe. Seine Aufgabe war es, langsam und vorsichtig zu gehen, ohne zu fallen. Wie konnte er sie da halten? Im Tornado? Auf Treibsand? Immer häufiger sagte er ihr ab. Immer häufiger kam er einfach nicht. Immer häufiger stellte er sein Handy aus. Immer häufiger arbeitete er viel zu lange. Immer häufiger spielte er dieses sinnlose Computerspiel.
Rose ist besorgt. So hat sie ihre Schwester Jasmin noch nie erlebt. Fast kann Rose durch sie hindurchsehen, wie sie ihr gegenübersitzt und in ihrem Kaffee rührt. Und Jasmins Stimme kommt aus einer verlorenen Welt.
Rose nimmt sich Urlaub. Zehn Tage. Und da hat sie auch noch Ersparnisse. Es wird schon reichen. Die Tasche ist hastig gepackt und glücklich. Lange klingelt sie, bevor Jasmin aufmacht. Sie ist fast nicht mehr zu fassen. Rose denkt: Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, aber ich gewinne ihn. Sie wirft Sachen in einen großen Einkaufsbeutel. Irgendetwas, das noch sauber ist. „Komm“, sagt sie zärtlich zu Jasmin.
Der Zug gibt endlich einen Takt. Ein Ziel zu haben gibt endlich ein Ziel. Rose ist sehr zufrieden mit sich. Einen Plan zu haben. Einen Plan zu verfolgen. Ein Schritt, ein Schritt, ein Schritt, ein Weg.
Jasmin ist unverändert durchsichtig und taub. Sie hat keinen Willen, darum hat sie auch keine Fragen. Doch dass der Zug einen Takt hat, das spürt auch sie.
Als sie die Grenze nach Frankreich überqueren, greift Jasmin die Hand von Rose. Sie lebt, denkt Rose, Gott sein Dank, sie lebt.
Als sie am späten Nachmittag an der Ottilienquelle unterhalb des Klosters Hohenburg stehen, lässt sich Rose erschöpft ins Gras fallen.
„Jetzt,“ sagt sie verschmitzt, ja ganz und gar verschmitzt, „Jetzt werden wir uns waschen. Dann werden wir den Berg hinaufsteigen. Dann werden wir am Kloster anklopfen. Dann werden wir dort schlafen. Ein Schritt, ein Schritt, ein Schritt, ein Weg.“
Illustration von Piyapong Saydaung
Dieser Text ist ein Auszug aus der biografischen Erzählung "Mutig in Gott" (Block-Verlag).
Venedig
(Franziska Dittert, 2021)
Der Zug rattert eintönig unter mir. Seit Stunden habe ich kein Wort gesprochen. Ich habe mir geschworen nicht zu sprechen. Kein Wort zu sagen, bis diese Woche vorüber ist. Die überflüssigste und nervigste Woche meines Lebens. Schlimmer als eine Woche voller wichtiger Klassenarbeiten. Schlimmer als eine Woche mit schwerer Grippe im Bett. Schlimmer als eine Woche mit einem traurigen Streit mit Sina.
Sina ist meine beste Freundin und sie hat gesagt: „Sieh doch das Positive! Immerhin kommst du nach Venedig, da wollte ich schon immer mal hin. Ich war bisher in den Ferien nur bei meiner Oma in Duisburg. Ich kenne von dieser ganzen verdammten Welt nur Neustadt und Duisburg.“
Ich wäre lieber eine Woche mit Sina in Duisburg, ganz sicher!
Mein Vater fragt mich, ob ich ein Brötchen will und ich nehme es stumm und kaue schweigend. Bei Vater und seiner neuen Freundin Lisa ist die Stimmung schlecht. Wäre das Schweigen nicht so anstrengend, wäre ich schadenfroh. Auch sie sprechen kaum und wenn dann leise. So als würde ich nicht streiken, sondern wäre krank.
Aus meinem Rucksack hole ich mein neues Buch „Geheimnisse eines Schmetterlings“. Am Tag vor der Reise habe ich es mit Mama in der Buchhandlung ausgesucht. „Eine Hälfte der Ferien bei mir und eine bei Papa, so ist das jetzt. Dagegen kann ich auch nichts machen. Gib dem Urlaub eine Chance. Papa und du, ihr wart immer ein gutes Team.“
Ja, wir waren ein gutes Team, aber jetzt ist diese Lisa da, die alles kaputt gemacht hat. Mama ist allein und versucht stark zu sein. Sie schimpft nicht auf meinen Vater, aber sie singt kaum noch beim Kochen. Sie sieht immer müde aus. Sie lacht nicht mehr.
Wir treten aus dem Bahnhof und ich bin überwältigt: Der Canal Grande fließt in leuchtendem Türkis vor uns. Die Häuser stehen mit nassen Füßen im Türkis, die Fassaden bunt, mit Fenstern wie orientalische Paläste.
Gern würde ich rufen: „Oh, wie wunderschön!“
Eine Möwe kreist über meinem Kopf. Gern würde ich lachen und nach oben zeigen: „Schaut nur, wie an der Nordsee!“
Unser Hotel ist wie ein Palast mit goldenen Tapeten und großen weichen Betten mit kunstvollen Schnitzereien. Ich entdecke sogar geflügelte Löwen darunter. Wenn ich sprechen würde, würde ich rufen: „Warum gibt es hier nur überall geflügelte Löwen?“ Vorsichtig fahre ich über einen der winzigen Löwenrücken und bin traurig wie ein Schmetterling mit zerknickten Flügeln.
Da höre ich leise Stimmen. Vorsichtig öffne ich die Tür zum Zimmer von Vater und Lisa einen Spalt: Da ist ein Schluchzen, leises Reden, eine verzweifelte, mit Wut vermischte, Stimme. Dann Schweigen.
Das Abendessen nehmen wir im Hotel ein. Es ist erst 17.00 Uhr. Niemand spricht darüber, ob man einen ersten Gang durch diese wunderbare Märchenstadt machen sollte. Niemand spricht überhaupt. Vater sieht mich böse an, immer wieder, aber verstohlen. So als wollte er mich böse ansehen, aber nur so, dass ich es nicht merke. Ich merke es und mein Herz ist ein zertretener Schmetterling.
Nach den Essen sitzen wir schweigend da. Ich möchte fort von hier. Wenn ich krank drei Klassenarbeiten schreiben müsste und dabei mit Sina zerstritten wäre, wäre das gar nichts gegen dieses Abendessen.
„Lisa fährt heute Abend um 19.34 Uhr zurück“, knallt Vaters Stimme auf einmal in die ewige Stille. Ich sehe Lisa an. Zum ersten Mal auf dieser Reise. Sie sieht verweint aus. Als sie meinen Blick bemerkt, steht sie auf, schiebt ihren Stuhl vorsichtig an den Tisch, nimmt ihr Handy und geht. Ich sehe Papa an. Sein Blick ist erschöpft und ich habe das Gefühl, er ist weit weg. Ein Schmetterling, den ich nur noch als Punkt am Horizont sehen kann.
„Ich bringe sie dann zum Bahnhof“, sagt er, „bleibst du bitte solange im Hotel?“
Illustration von Piyapong Saydaung
Unterrichtsmaterial zum Text findet sich auf https://eduki.com/de/890781