Bloßgestellt
(Franziska Dittert, 2022)
Diese Party werde ich nie vergessen, obwohl ich mich nicht mehr daran erinnern kann.
Die Party war an einem Samstag bei Paul. Am Sonntagmittag wachte ich auf Pauls Sofa auf. Alles tat mir weh, mir war übel und ich entschied sofort, direkt weiterzuschlafen, bis es mir besser ging. Gegen Abend warf Paul mich mit einem „Du musst jetzt echt mal gehen!“ raus. Vor dem Haus stand mein Fahrrad, das ich schob und so langsam und wacklig nach Hause ging.
Ich räumte meinen Kopf auf: Pauls Geburtstag; Jonna war da; wir haben geredet; dann diese Spiele; die Verlierer haben Kurze getrunken; Jonna hat mich angefeuert. Und dann? Wann ist sie gegangen? Wann sind die anderen gegangen? Filmriss, dachte ich, schöner Mist.
Das Gespräch mit meiner Mutter brachte ich hinter mich. Ich brauchte nur Ruhe. Dunkelheit. Und ich musste liegen. Weiterschlafen.
Ein sanftes Ruckeln weckte mich. „Mark“, die Stimme meiner Mutter klang leise, weit weg, besorgt, „Jonna hat angerufen. Sie geht doch in deine Stufe, oder? Du sollst sie schnell zurückrufen.“
Meine Augen so schwer, wie aus Stein. In meinem Magen immer noch ein Wespenschwarm unterwegs. Im Kopf ein piependes Pochen. Reflexartig griff ich in die Tasche nach meinem Handy. 63 neue Nachrichten. Ziellos scrollte ich im Klassenchat herum und erstarrte: Ein Foto von mir, lachend, auf dem Klavier von Paul stehend, mit runtergezogener Hose. Bis zu den Knien hing die Hose. Bis zu den Knien hing die Unterhose. Meine Hose. Meine Unterhose.
Panisch checkte ich die anderen Chats: Überall dasselbe Bild!
Da spielten die Wespen in meinem Magen verrückt. Ich stürzte ins Bad und übergab mich.
Noch neun Stunden bis Montagmorgen, erste Unterrichtsstunde.
Jonna rief ich nicht an. Ich nahm eine Kopfschmerztablette, schaltete das Handy aus und zog die Decke über den Kopf. Nur schlafen, nur ein paar Stunden noch Ruhe.
Illustration von Piyapong Saydaung
Unterrichtsmaterial zum Text findet sich auf https://eduki.com/de/571504
Wieder laufen lernen
(Franziska Dittert, 2019)
Jasmin ist grau und wie Staub. Der Tag war ein Tornado. Seit dem frühen Tod ihrer Freundin ist sie auf Treibsand unterwegs. Keine einzige Wurzel mehr, die sich um die Steine des Lebens klammern könnten. Wie ein alter Kassenbon auf dem Supermarktparkplatz wird sie durch das Leben getrieben.
Jason ist unsicher und genervt. Jasmin war wie das Fundament eines Wolkenkratzers, als er sie kennenlernte. Er war der Träumer, der Zögernde, der Stolpernde. Er konnte ihr jetzt wirklich nicht helfen, er war nicht stark genug. Es war nicht seine Aufgabe. Seine Aufgabe war es, langsam und vorsichtig zu gehen, ohne zu fallen. Wie konnte er sie da halten? Im Tornado? Auf Treibsand? Immer häufiger sagte er ihr ab. Immer häufiger kam er einfach nicht. Immer häufiger stellte er sein Handy aus. Immer häufiger arbeitete er viel zu lange. Immer häufiger spielte er dieses sinnlose Computerspiel.
Rose ist besorgt. So hat sie ihre Schwester Jasmin noch nie erlebt. Fast kann Rose durch sie hindurchsehen, wie sie ihr gegenübersitzt und in ihrem Kaffee rührt. Und Jasmins Stimme kommt aus einer verlorenen Welt.
Rose nimmt sich Urlaub. Zehn Tage. Und da hat sie auch noch Ersparnisse. Es wird schon reichen. Die Tasche ist hastig gepackt und glücklich. Lange klingelt sie, bevor Jasmin aufmacht. Sie ist fast nicht mehr zu fassen. Rose denkt: Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, aber ich gewinne ihn. Sie wirft Sachen in einen großen Einkaufsbeutel. Irgendetwas, das noch sauber ist. „Komm“, sagt sie zärtlich zu Jasmin.
Der Zug gibt endlich einen Takt. Ein Ziel zu haben gibt endlich ein Ziel. Rose ist sehr zufrieden mit sich. Einen Plan zu haben. Einen Plan zu verfolgen. Ein Schritt, ein Schritt, ein Schritt, ein Weg.
Jasmin ist unverändert durchsichtig und taub. Sie hat keinen Willen, darum hat sie auch keine Fragen. Doch dass der Zug einen Takt hat, das spürt auch sie.
Als sie die Grenze nach Frankreich überqueren, greift Jasmin die Hand von Rose. Sie lebt, denkt Rose, Gott sein Dank, sie lebt.
Als sie am späten Nachmittag an der Ottilienquelle unterhalb des Klosters Hohenburg stehen, lässt sich Rose erschöpft ins Gras fallen.
„Jetzt,“ sagt sie verschmitzt, ja ganz und gar verschmitzt, „Jetzt werden wir uns waschen. Dann werden wir den Berg hinaufsteigen. Dann werden wir am Kloster anklopfen. Dann werden wir dort schlafen. Ein Schritt, ein Schritt, ein Schritt, ein Weg.“
Illustration von Piyapong Saydaung
Dieser Text ist ein Auszug aus der biografischen Erzählung "Mutig in Gott" (Block-Verlag).
Venedig
(Franziska Dittert, 2021)
Der Zug rattert eintönig unter mir. Seit Stunden habe ich kein Wort gesprochen. Ich habe mir geschworen nicht zu sprechen. Kein Wort zu sagen, bis diese Woche vorüber ist. Die überflüssigste und nervigste Woche meines Lebens. Schlimmer als eine Woche voller wichtiger Klassenarbeiten. Schlimmer als eine Woche mit schwerer Grippe im Bett. Schlimmer als eine Woche mit einem traurigen Streit mit Sina.
Sina ist meine beste Freundin und sie hat gesagt: „Sieh doch das Positive! Immerhin kommst du nach Venedig, da wollte ich schon immer mal hin. Ich war bisher in den Ferien nur bei meiner Oma in Duisburg. Ich kenne von dieser ganzen verdammten Welt nur Neustadt und Duisburg.“
Ich wäre lieber eine Woche mit Sina in Duisburg, ganz sicher!
Mein Vater fragt mich, ob ich ein Brötchen will und ich nehme es stumm und kaue schweigend. Bei Vater und seiner neuen Freundin Lisa ist die Stimmung schlecht. Wäre das Schweigen nicht so anstrengend, wäre ich schadenfroh. Auch sie sprechen kaum und wenn dann leise. So als würde ich nicht streiken, sondern wäre krank.
Aus meinem Rucksack hole ich mein neues Buch „Geheimnisse eines Schmetterlings“. Am Tag vor der Reise habe ich es mit Mama in der Buchhandlung ausgesucht. „Eine Hälfte der Ferien bei mir und eine bei Papa, so ist das jetzt. Dagegen kann ich auch nichts machen. Gib dem Urlaub eine Chance. Papa und du, ihr wart immer ein gutes Team.“
Ja, wir waren ein gutes Team, aber jetzt ist diese Lisa da, die alles kaputt gemacht hat. Mama ist allein und versucht stark zu sein. Sie schimpft nicht auf meinen Vater, aber sie singt kaum noch beim Kochen. Sie sieht immer müde aus. Sie lacht nicht mehr.
Wir treten aus dem Bahnhof und ich bin überwältigt: Der Canal Grande fließt in leuchtendem Türkis vor uns. Die Häuser stehen mit nassen Füßen im Türkis, die Fassaden bunt, mit Fenstern wie orientalische Paläste.
Gern würde ich rufen: „Oh, wie wunderschön!“
Eine Möwe kreist über meinem Kopf. Gern würde ich lachen und nach oben zeigen: „Schaut nur, wie an der Nordsee!“
Unser Hotel ist wie ein Palast mit goldenen Tapeten und großen weichen Betten mit kunstvollen Schnitzereien. Ich entdecke sogar geflügelte Löwen darunter. Wenn ich sprechen würde, würde ich rufen: „Warum gibt es hier nur überall geflügelte Löwen?“ Vorsichtig fahre ich über einen der winzigen Löwenrücken und bin traurig wie ein Schmetterling mit zerknickten Flügeln.
Da höre ich leise Stimmen. Vorsichtig öffne ich die Tür zum Zimmer von Vater und Lisa einen Spalt: Da ist ein Schluchzen, leises Reden, eine verzweifelte, mit Wut vermischte, Stimme. Dann Schweigen.
Das Abendessen nehmen wir im Hotel ein. Es ist erst 17.00 Uhr. Niemand spricht darüber, ob man einen ersten Gang durch diese wunderbare Märchenstadt machen sollte. Niemand spricht überhaupt. Vater sieht mich böse an, immer wieder, aber verstohlen. So als wollte er mich böse ansehen, aber nur so, dass ich es nicht merke. Ich merke es und mein Herz ist ein zertretener Schmetterling.
Nach den Essen sitzen wir schweigend da. Ich möchte fort von hier. Wenn ich krank drei Klassenarbeiten schreiben müsste und dabei mit Sina zerstritten wäre, wäre das gar nichts gegen dieses Abendessen.
„Lisa fährt heute Abend um 19.34 Uhr zurück“, knallt Vaters Stimme auf einmal in die ewige Stille. Ich sehe Lisa an. Zum ersten Mal auf dieser Reise. Sie sieht verweint aus. Als sie meinen Blick bemerkt, steht sie auf, schiebt ihren Stuhl vorsichtig an den Tisch, nimmt ihr Handy und geht. Ich sehe Papa an. Sein Blick ist erschöpft und ich habe das Gefühl, er ist weit weg. Ein Schmetterling, den ich nur noch als Punkt am Horizont sehen kann.
„Ich bringe sie dann zum Bahnhof“, sagt er, „bleibst du bitte solange im Hotel?“
Illustration von Piyapong Saydaung
Unterrichtsmaterial zum Text findet sich auf https://eduki.com/de/890781
Schneeglöckchen
(Franziska Dittert, 2020)
Das Augenrollen der Krankenschwester, der schwitzenden. Schweiß-Schwester. Wie sie mich ansieht. Ihr gekniffenes Lächeln. Die harte Freundlichkeit. Die Stimme: „Frau Freiberg, es ist drei Uhr. Was gibt es denn? Frau Freiberg, warum sind sie nicht im Bett?“
Ich sehe ihre Gedanken: Diese blöde Kuh. So fett und fällt trotzdem ständig aus dem Bett.
Ich bin nicht im Bett. Ich wollte aufstehen. Ich wollte einfach aufstehen und aus dem Fenster sehen. Zum Fenster gehen. Raussehen. Gucken. Das machen Menschen doch, die nicht schlafen können. Ich kann nicht fernsehen, nicht um drei Uhr nachts. Da sind die anderen drei: Diese Kleine mit den angemalten Augen, diese Uralte und die ganz Stille. Vor der habe ich Angst. Ich weiß, sie verachtet mich. Ich weiß, sie hat Macht über mich, wenn ich nachts den Fernseher anstelle.
Ich bin auf mein rechtes Bein gefallen und ich glaube, es ist gebrochen, der Schmerz ist unendlich. Ich höre mich schreien: „Ahhh, mein Bein, dieser Schmerz, dieser Schmerz, helfen Sie mir doch, helfen Sie mir, ahhh.“
Die Schwitzende geht. Kein Wort. Keine Berührung. Kein Blick. Sie will mich hier sterben lassen. In diesem brutalen Krankenhaus, in dem einen niemand hilft. Ich friere, mir ist heiß. Heiß vor Angst. Heiß vor Schmerz. Heiß vor Hass auf die Schwester.
„Frau Freiberg wieder. Ja, am Mittwoch auch schon. Ich weiß es nicht. Bin schon zehn Stunden auf den Beinen. Packen wir´s an.“ Die Schwitzende kommt zurück mit dem Leisen. Ich höre seine Stimme nie. Sie packen mich gemeinsam. Ich brülle, ich brülle, ich brülle. Sie wollen mich töten. Sie wurden geschickt von der Stillen. Wenn sie von ihrem Bett zu mir rübersieht, wird mir ganz kalt. Dann nimmt sie ihr Strickzeug, ganz spitze Nadeln. Die Wolle nimmt sie aus dem Nachttisch und legt sie auf die Decke. Erst dann nimmt sie den Blick von mir. Sie fängt zu klappern an: klapp-klapp, pause, klapp-klapp, pause, klapp-klapp, pause. In diesem Moment habe ich immer Horror vor den Nadeln. Den spitzen Nadeln, die sie in die Wolle stößt. Ich weiß, dass sie nachts an meinem Bett steht mit den Nadeln und sie mir in die Augen rammen will oder den Hals. Alle wollen mich loswerden. Hassen mich.
„Schlafen Sie gut, und schön liegenbleiben“, die Schwitzende deckt mich zu. Kann sie jetzt auch lassen, das Getue, „soll ich Ihnen noch etwas zum Einschlafen geben?“ Ich sage nichts. Sie wollen mich ruhigstellen. Vielleicht für immer. Dann müssen sie mir schon eine Kanüle reinrammen.
Wenn ich aufwache, habe ich immer einen Kindheitsmoment. Immer wieder verschiedene. Aber alle sind warm. Omas Küche zum Beispiel. Die Bank am Herd und warmer Kuchen. Oder Sonntagnacht und fernsehen, bis ich einschlafe: Kevin-Allein zu Haus, James Bond, Terminator. Meine Lehrerin, wie sie sagt, ich sei ein starkes Mädchen. Das ist ein Hauch. Ein Atem. Dann sind da wieder: das Krankenzimmer, die Wunden, die anderen Erinnerungen an damals, die Erinnerungen an letzte Woche, die Erinnerungen an gestern. Ab da ist alles kotzgrau bis zum nächsten Aufwachen am Morgen. Alles nur für `ne halbe Sekunde; 23 Stunden und 59 Minuten und 59,5 Sekunden pures Leid und Schikane.
Zuerst der Leise: „Frau Freiberg, ich muss Sie jetzt waschen und ihre Wunden versorgen“. Meine Wunden ist mein Bauch. Alles kaputt. Es eitert, sabbert, blutet, spuckt, tropft, saut alles ein. Auch den Leisen. Der guckt unerträglich. Das ist doch sein Job: Der sollte doch Wunden kennen. Die Leute hier sind alle schlecht in ihrem Job. Das liegt daran, dass sie mich ins schlechteste Krankenhaus der Stadt gebracht haben. Die Leute hier sind nur dafür da, mich langsam zu Grunde zu richten. Wenn er mich anfasst, schreie ich.
Ich schreie, schreie, schreie. Ich schlage um mich. Er geht. Er kommt mit einer wieder, die ich nicht kenne. Obwohl ich schreie, nehmen sie die Verbände ab, auch die zwischen den Fettfalten. Und diese Creme brennt wahnsinnig. Es dauert ewig.
Ich habe geschlafen. Alles ist so anstrengend. Ich weine. Ich wache auf, weil ich weine. Niemand kommt, nie kommt jemand. Ich könnte drücken. Irgendwer würde kommen. Würde irgendwas fragen. Dann wollen sie, dass ich rede. Ich hasse reden. Ich möchte schlafen, ich möchte essen. Ich weiß nicht, wie spät es ist, ob es schon Frühstück gab. Es gibt hier viel zu wenig und ich hasse es, dass die anderen mir beim Essen zusehen. Die Stille guckt immer zu, wenn ich esse. Sie durchbohrt mich mit ihren Blicken wie mit Stricknadeln. Dann schlinge ich. Dann verschlucke ich mich. Genau das will sie. Sie will, dass ich mich verschlucke. Bis ich ersticke.
Die Angemalte und die Uralte reden leise. Was kann man mit so einer Uralten noch reden? Der Fernseher läuft, ich sehe einen See, ein Boot, Bäume, ein Netz, einen großen Mann mit Gummistiefeln. Das ist schön. Ich wäre gern am See. Ich brauche nicht aufstehen, um den Himmel zu sehen, sondern liege einfach auf der Wiese. Wenn man auf der Wiese liegt, hat man kein Gewicht. Auf der Wiese liegen ist wie auf Wolken liegen. Mit Georg lag ich auf einer Wiese. Es war nur hinterm Haus in Berlin. Aber der Himmel war auch ohne See schön. Die Wiese ist ja schön, wegen des Himmels und nicht wegen des Sees. Der Himmel ist schön, wegen dem, mit dem man liegt oder an den man denkt. Man liegt immer nur auf der Wiese, wenn die Liebe gerade schön ist. Danach wurde sie brutal. Wir lagen nie wieder auf der Wiese. Was er zu mir sagte. Als er mich schlug und ich den Stuhl warf. Und das Konto war schon leer. Wir waren beide betrunken. Und meine Mutter stand da, schreiend und heulend. Der Blick. Der Blick: Nichtsnutziges dreckiges Balg.
Visite. Der Fake-Professor mit seiner Bei-Der-Nächsten-OP-Wird-Alles-Besser-Stimme. Ich höre gar nicht hin. Wenn er redet, ist in meinem Kopf eine Stimme die singt: bä- bäbä-bäbäpä-ä-bä“. Ein Mega-Blasorchester, nur schief und falsch.
„Frau Freiberg!“, seine Stimme hat jetzt ein Ausrufezeichen. Ich gucke ihn an.
„Ich bin noch nicht zufrieden mit der Heilung der Wunde. Doch die Pilzinfektion haben wir erfolgreich behandelt. Die OP ist für morgen früh angesetzt. Die Schwestern werden darauf achten, dass sie dann nüchtern sind.“
Er erwartet gar nicht, dass ich antworte. Wenn die dann mit ihren Zetteln kommen, unterschreibe ich alles. Nachher schreibe ich ein Testament. Nachher schreibe ich Mutti. Ich werde schreiben, dass sie mich zu Tode gequält haben. Dass ihre Behandlung mein Leiden verschlimmert hat. Dass ich Opfer eines gezielten Mordes wurde. Weil ich Hilfe brauchte, weil ich Geld kostete, weil das System mich loswerden wollte.
Mutti war lange nicht da. Letztes Mal war sie gemein. Sie hat von Georg erzählt und seiner Frau. Sie hat von der Lehre angefangen, die ich mal machen wollte. Aber niemand kann verlangen, dass irgendjemand dort arbeitet. Sie hat mich nie verstanden, sie hat nie verstanden, wie dieser Chef war. Und dieser Karierte. Noch schlimmer war dieser Karierte. Ich hatte keine Chance. Sie haben mir keine gegeben. Sie haben mich schlecht gemacht. Alle haben geglaubt, ich tauge nichts. Ich hätte keine andere Lehrstelle gefunden.
Ich habe alle Zettel unterschrieben. Die Narkose-Tante hat so viel geredet. Sie redet so schnell, dass niemand sie versteht. Hat sie noch nie gemerkt, dass niemand sie versteht? Alle antworten nur irgendwas, was vielleicht irgendwie passen könnte, auch ihre Kinder und ihr Mann. Manchmal denkt er: Wenn ich sie nur einmal verstehen könnte. Er ist ein trauriger Mann. Ob er fremdgeht? Aber vielleicht ist er hässlich und muss bei ihr bleiben. Sie blubbert und blubbert und blubbert. Er sieht sie an und wünscht, er könnte nur einmal einen einzigen Satz verstehen. Innerlich weint er. Ein trauriger Mann.
Ich bin so müde. Das Testament schreibe ich morgen. Jetzt einfach nur schlafen. Ich weiß nicht, wie lange ich schon wach bin. Ich weiß nicht, wie spät es ist. Alles tut so weh. Jemand hat das Fenster aufgemacht. Irgendwie riecht es so. Nach etwas. Ich glaube, es wird Frühling. Als wir einmal im Wald waren und es war alles voller Schneeglöckchen. Ich möchte so gerne ein Schneeglöckchen sein. Wenn ich tot bin, möchte ich ein Schneeglöckchen sein. Ein ganz kleines. Aber das allererste. Das ganze Jahr schlafe ich und im Frühling wache ich auf. Ich stehe am Weg, bei einem See. Viele Leute gehen spazieren. Wenn sie mich sehen, rufen sie: „Ein Schneeglöckchen. Jetzt wird es endlich Frühling!“
Alles tut so weh, sie geben mir viel zu wenig Schmerzmittel. Selbst schuld ist sie, die dumme Kuh, jetzt soll sie sehen, was die davon hat. Das denken hier alle und wollen, dass ich leide. Jetzt einfach nur am Fenster stehen und diese neue Luft riechen. Schneeglöckchen spüren keine Schmerzen. Sie sind schwerelos wie die Wolken über der Wiese.
Die Schwitzende beugt sich über mich. Ich bin nicht im Bett. Ich wollte aufstehen. Ich wollte einfach aufstehen und aus dem Fenster sehen. Zum Fenster gehen. Raussehen. Ihr Augenrollen. Wie sie mich ansieht. Ihr gekniffenes Lächeln. Die harte Freundlichkeit. Die Stimme: „Frau Freiberg, was gibt es denn? Frau Freiberg, warum sind sie nicht im Bett?“
Illustration von Oksana Gogu
Kurzgeschichte aus "Der Zockerkönig und andere Wirklichkeiten" (Block-Verlag)